Montag, 15. Juni 2009

Saloon-Schießerei in der SPD

von Wolfram Weimer



Über Frank-Walter Steinmeier politische Witze zu machen,

ist derzeit so billig wie Österreich-Scherze im

Weltfußball. Der Außenminister wirkt nach dem SPD-Debakel

bei der Europawahl schwer angeschlagen. Während Angela

Merkel so beliebt ist wie sonst nur Günther Jauch, die

Sonne oder das Sandmännchen, fällt das politische Berlin

plötzlich lästernd über die „Schlaftablette" Steinmeier

her. Im Vergleich zu seinem Ziehvater Gerhard Schröder

wirke er wie ein Hauskätzchen neben einem Löwen, wie ein

Pfandbrief neben einem Turbo-Zertifikat, wie eine

Nagelfeile neben einer Kettensäge.



In der SPD halten darum viele die Bundestagswahl schon für

verloren. Müntefering mahnt zwar, man solle in einem

hitzigen Saloon nicht auf den Mann am Klavier schießen.

Doch das befolgt keiner mehr. Vor allem die Parteilinke

schießt unter den Tischen aus allen Revolvern gegen „den

letzten Schröderianer". Steinmeier solle jetzt „die

Abschlussquittung für die Agendapolitik" kassieren, und

dann stehe der Generationenwechsel ins Haus. Vor allem

Wowereit, Nahles und Gabriel bereiten sich schon auf die

Zeit nach Müntefering, Struck und Steinmeier vor. Hinter

den Kulissen des Willy-Brandt-Hauses geht es bereits um

die innerparteiliche, nach links drängende Macht nach dem

27. September.



Beim großen Abgesang auf Steinmeier übersehen manche, dass

das Problem der SPD tiefer reicht. Denn während die

Sozialdemokraten über die personale Fassade ihrer Präsenz

streiten, brechen ihnen drei Fundamente weg.



Erstens verliert die SPD ihre klassischen Milieus. Die

politisch formierte Arbeiterschaft Marke Kohlekumpel

schwindet. Die mobile Dienstleisterschaft der Sorte

Call-Center-Agent ist unpolitisch, häufig Nichtwähler. Der

bürgerliche Mittelstand wählt weithin den Hybridmotor der

deutschen Politik: Angela Merkel (Sozialdemokratin und

Christdemokratin in einer Person). Die Aufsteiger und

Tatmenschen streben zur FDP, das sentimentale

Bildungsbürgertum optiert Grün. Was bleibt? Das

frustrierte Prekariat, ostdeutsche Rechthaber und

westdeutsche Linksideologen – die wählen die Linkspartei.



Zwischen einer Union, die in der Großen Koalition

sozialdemokratisiert ist, und einer Linkspartei, die

schamanenartig den Neosozialismus salonfähig macht, werden

der SPD die Räume eng. Wie eingekeilt verliert sie den

Verstand an die Merkel-Union, das Herz an die

Lafontaine-Linke. Sie ist eine Art Wikipedia ihrer selbst

geworden – sie referiert sich noch, lebt aber nicht mehr.



Zweitens verlieren die Sozialdemokraten – noch stärker als

Verortung und Halt – die Intellektuellen. „Der Geist steht

links", hieß es bis in die achtziger Jahre. „Der Geist

steht links, aber rechts bewegt er sich", tönte es seit

den neunziger Jahren. Heute steht der Geist weder links

noch rechts, er weht, wohin er will – nur immer seltener

nach links. „Linke Intellektuelle" – das klingt heute nach

unlustigen alten Herren, gestrig wie Gamaschen und

Absinth. Wer aber die Intellektuellen nicht mehr erreicht,

oder – wichtiger noch – von ihnen erreicht wird, der

verliert rapide Deutungsmacht – die Vorstufe jedes realen

Machtverlusts.



Das dritte Strukturproblem der SPD liegt in ihrem inneren

Auftrag. Ihre historische Mission, eine sozial verfasste

Demokratie und einen möglichst mächtigen

Umverteilungsstaat zu etablieren, ist in Deutschland

erfüllt. Übererfüllt sogar. Das Sozialstaatsboot wirkt

eher überladen, sodass es hie und da schwergängig geworden

ist, also eher erleichtert werden muss – was mit der

Agenda 2010 Gerhard Schröders versucht wurde, die Partei

aber in ein Richtungsdilemma stürzte. Im Herzen will die

SPD noch mehr Staat, ihr Verstand aber sagt ihr, dass nach

100 Jahren etatistischer Expansion etwas weniger davon nun

ganz vernünftig wäre.



Hinzu kommt, dass die heutige Merkel-Republik eigentlich

genau so ist, wie sich frühere Generationen der

Sozialdemokratie ihr Traumland gemalt hätten. Darum ist

die SPD zur defensiven, strukturkonservativen Formation

geworden, sie wirkt ständig satt und pausbäckig, obwohl

sie immer kleiner wird. Die Faszination des Wollens, die

Magie der Verheißung ist ihr abhanden gekommen.



Verräterisch für dieses psychologische Dilemma ist das

fehlende Modernisierungsversprechen der Partei.

Sozialdemokratischsein hieß für eine lange Phase des 20.

Jahrhunderts: auf der Seite des Fortschritts stehen. Seit

zwanzig, ¬dreißig Jahren aber haben sich die linken

Parteien Europas vor allem als Retardierungsinstanzen

profiliert. Sie wollen den Modernisierungsschub der

Globalisierung im Wesentlichen bremsen, sind

technologieskeptisch geworden und stehen damit nicht mehr

aufseiten der avantgardistischen Evidenz. Man wittert um

die SPD ein Milieu der Bedenken und Ängste, keines der

Verheißungen und Visionen. Vor allem die Gewerkschaften

wirken dabei wie steinerne Trutzburgen des

Antimodernismus.



Es ist also nicht Frank-Walter Steinmeier, der die Partei

von der stolzen Volkspartei zur „Heulsusentruppe"

(Steinbrück) hat degenerieren lassen. Die SPD zerfällt

nicht von oben, sondern von innen.









(Quelle: cicero.de)