von Wolfram Weimer
Über Frank-Walter Steinmeier politische Witze zu machen,
ist derzeit so billig wie Österreich-Scherze im
Weltfußball. Der Außenminister wirkt nach dem SPD-Debakel
bei der Europawahl schwer angeschlagen. Während Angela
Merkel so beliebt ist wie sonst nur Günther Jauch, die
Sonne oder das Sandmännchen, fällt das politische Berlin
plötzlich lästernd über die „Schlaftablette" Steinmeier
her. Im Vergleich zu seinem Ziehvater Gerhard Schröder
wirke er wie ein Hauskätzchen neben einem Löwen, wie ein
Pfandbrief neben einem Turbo-Zertifikat, wie eine
Nagelfeile neben einer Kettensäge.
In der SPD halten darum viele die Bundestagswahl schon für
verloren. Müntefering mahnt zwar, man solle in einem
hitzigen Saloon nicht auf den Mann am Klavier schießen.
Doch das befolgt keiner mehr. Vor allem die Parteilinke
schießt unter den Tischen aus allen Revolvern gegen „den
letzten Schröderianer". Steinmeier solle jetzt „die
Abschlussquittung für die Agendapolitik" kassieren, und
dann stehe der Generationenwechsel ins Haus. Vor allem
Wowereit, Nahles und Gabriel bereiten sich schon auf die
Zeit nach Müntefering, Struck und Steinmeier vor. Hinter
den Kulissen des Willy-Brandt-Hauses geht es bereits um
die innerparteiliche, nach links drängende Macht nach dem
27. September.
Beim großen Abgesang auf Steinmeier übersehen manche, dass
das Problem der SPD tiefer reicht. Denn während die
Sozialdemokraten über die personale Fassade ihrer Präsenz
streiten, brechen ihnen drei Fundamente weg.
Erstens verliert die SPD ihre klassischen Milieus. Die
politisch formierte Arbeiterschaft Marke Kohlekumpel
schwindet. Die mobile Dienstleisterschaft der Sorte
Call-Center-Agent ist unpolitisch, häufig Nichtwähler. Der
bürgerliche Mittelstand wählt weithin den Hybridmotor der
deutschen Politik: Angela Merkel (Sozialdemokratin und
Christdemokratin in einer Person). Die Aufsteiger und
Tatmenschen streben zur FDP, das sentimentale
Bildungsbürgertum optiert Grün. Was bleibt? Das
frustrierte Prekariat, ostdeutsche Rechthaber und
westdeutsche Linksideologen – die wählen die Linkspartei.
Zwischen einer Union, die in der Großen Koalition
sozialdemokratisiert ist, und einer Linkspartei, die
schamanenartig den Neosozialismus salonfähig macht, werden
der SPD die Räume eng. Wie eingekeilt verliert sie den
Verstand an die Merkel-Union, das Herz an die
Lafontaine-Linke. Sie ist eine Art Wikipedia ihrer selbst
geworden – sie referiert sich noch, lebt aber nicht mehr.
Zweitens verlieren die Sozialdemokraten – noch stärker als
Verortung und Halt – die Intellektuellen. „Der Geist steht
links", hieß es bis in die achtziger Jahre. „Der Geist
steht links, aber rechts bewegt er sich", tönte es seit
den neunziger Jahren. Heute steht der Geist weder links
noch rechts, er weht, wohin er will – nur immer seltener
nach links. „Linke Intellektuelle" – das klingt heute nach
unlustigen alten Herren, gestrig wie Gamaschen und
Absinth. Wer aber die Intellektuellen nicht mehr erreicht,
oder – wichtiger noch – von ihnen erreicht wird, der
verliert rapide Deutungsmacht – die Vorstufe jedes realen
Machtverlusts.
Das dritte Strukturproblem der SPD liegt in ihrem inneren
Auftrag. Ihre historische Mission, eine sozial verfasste
Demokratie und einen möglichst mächtigen
Umverteilungsstaat zu etablieren, ist in Deutschland
erfüllt. Übererfüllt sogar. Das Sozialstaatsboot wirkt
eher überladen, sodass es hie und da schwergängig geworden
ist, also eher erleichtert werden muss – was mit der
Agenda 2010 Gerhard Schröders versucht wurde, die Partei
aber in ein Richtungsdilemma stürzte. Im Herzen will die
SPD noch mehr Staat, ihr Verstand aber sagt ihr, dass nach
100 Jahren etatistischer Expansion etwas weniger davon nun
ganz vernünftig wäre.
Hinzu kommt, dass die heutige Merkel-Republik eigentlich
genau so ist, wie sich frühere Generationen der
Sozialdemokratie ihr Traumland gemalt hätten. Darum ist
die SPD zur defensiven, strukturkonservativen Formation
geworden, sie wirkt ständig satt und pausbäckig, obwohl
sie immer kleiner wird. Die Faszination des Wollens, die
Magie der Verheißung ist ihr abhanden gekommen.
Verräterisch für dieses psychologische Dilemma ist das
fehlende Modernisierungsversprechen der Partei.
Sozialdemokratischsein hieß für eine lange Phase des 20.
Jahrhunderts: auf der Seite des Fortschritts stehen. Seit
zwanzig, ¬dreißig Jahren aber haben sich die linken
Parteien Europas vor allem als Retardierungsinstanzen
profiliert. Sie wollen den Modernisierungsschub der
Globalisierung im Wesentlichen bremsen, sind
technologieskeptisch geworden und stehen damit nicht mehr
aufseiten der avantgardistischen Evidenz. Man wittert um
die SPD ein Milieu der Bedenken und Ängste, keines der
Verheißungen und Visionen. Vor allem die Gewerkschaften
wirken dabei wie steinerne Trutzburgen des
Antimodernismus.
Es ist also nicht Frank-Walter Steinmeier, der die Partei
von der stolzen Volkspartei zur „Heulsusentruppe"
(Steinbrück) hat degenerieren lassen. Die SPD zerfällt
nicht von oben, sondern von innen.
(Quelle: cicero.de)
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